Niemand mag dich – Kurzgeschichte

Niemand mag dich

Wie vom Blitz getroffen bleibe ich stehen und starre auf das Wartehäuschen. Das darf nicht wahr sein, oder? Würde es etwas nützen, wenn ich die Augen schließe? Doch als ich sie wieder öffne, ist es noch immer da. Obwohl der Bus jeden Moment kommen wird, kann ich mich nicht vom Fleck rühren. Es ist wie in einem dieser verflixten Träume. Man hat es eilig und kommt nicht voran.

Die Menschen, die sich mittlerweile vor dem Wartehäuschen eingefunden haben, kenne ich alle. Es sind immer dieselben. Einige fahren zur Arbeit, andere zur Schule. Auch die alte Frau Lehmann steht wieder da, mit ihrer großen Handtasche, die sie fest an ihren Körper drückt. Sie wird zunehmend verwirrter und lebt in einer anderen Welt, meistens in ihrer Vergangenheit. Daher wähnt sich Frau Lehmann auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz in der Textilfabrik. Die gibt es zwar schon lange nicht mehr, aber ihr Sohn lässt sie jeden Morgen mit dem Bus in die Stadt fahren und holt sie dann mit dem Auto wieder ab. Ich weiß das alles, weil ich mich im Bus immer neben Frau Lehmann setze. Sie ist freundlich zu mir, im Gegensatz zu den vier Jungen da drüben, die auf dieselbe Schule gehen wie ich. Jetzt haben sie mich gesehen. Einer von ihnen zeigt mit dem Finger auf mich. Die anderen beginnen zu kichern und zu tuscheln. Langsam trete ich den Rückzug an.

Hey, Larissa. Hast du es schon gelesen?“

Wie hätte ich das übersehen können? Die großen Buchstaben springen mir fast entgegen. Die Jungen grölen. Dann kommt endlich der Bus und verschluckt sie. Der Fahrer hupt ein Mal, aber ich ignoriere ihn. Stattdessen laufe ich in die entgegengesetzte Richtung. Endlich Ruhe! Die ersten Regentropfen fallen auf meine Brillengläser. Dann werden es immer mehr, bis es schließlich in Strömen gießt. Nach wenigen Minuten bin ich nass bis auf die Haut. Doch das kümmert mich nicht.

Niemand mag dich, Larissa!

Wieder und wieder schießt mir der Satz durch den Kopf, den bestimmt einer dieser fiesen Typen riesengroß an die Scheibe des Wartehäuschens geschmiert hat.

Wo soll ich jetzt nur hin? In die Schule gehe ich definitiv nicht. Das Schulhaus wird bis zur nächsten großen Pause abgeschlossen und außerdem habe ich kein Bedürfnis, diesen Mistkerlen heute noch einmal über den Weg zu laufen. Nach Hause will ich auch nicht. Meine Eltern sind bereits zur Arbeit gefahren. Aber meine Oma ist daheim. Ich hätte ihr zwar auftischen können, dass ich mich nicht gut fühle, aber ich habe keine Lust auf ihre Fragen. Warum wohnen wir auch in so einem Kaff? In der Stadt hätte ich die Zeit bis Schulschluss in einem Einkaufszentrum totschlagen können.

Ich nehme es meinen Eltern immer noch übel, dass sie mich vor zwei Jahren in dieses abgelegene Dorf verschleppt haben. Ich mag meine Oma wirklich und ich weiß auch, dass sie Hilfe im Haushalt braucht. Seit Opa gestorben ist, ist sie zu viel allein. Aber ich vermisse meine beste Freundin Verena und ich vermisse die Stadt. Seit ich hier bin, habe ich noch kein Mädchen gefunden, mit dem ich befreundet hätte sein wollen. Oder ist es umgedreht? An manchen Tagen fühle ich mich wie eine Aussätzige, die von allen gemieden wird. Dabei habe ich doch überhaupt nichts falsch gemacht. Das zumindest sagen meine Eltern mir immer wieder, wenn ich tränenüberströmt in meinem Zimmer hocke und mich einsam fühle. Das wird schon noch, lautet ihr wenig hilfreicher Trostversuch. Was soll denn nach zwei Jahren noch werden?

In meiner Klasse gibt es nur fünf Mädchen, aber sie sind allesamt alberne Gänse, die sich für nichts weiter als ihre Handys und die neuesten Kleidungstrends interessieren. Youtube, Facebook, Shoppen, das sind ihre Themen. Und dann ihr nerviges Gekicher. Das ist einfach nichts für mich. Ich bin ein Bücherwurm und kann mich stundenlang in fantastischen Geschichten verlieren. Als ich ihnen gegenüber anfangs erwähnte, dass ich Harry Potter mag, erntete ich nur ungläubige Blicke und missbilligendes Kopfschütteln. Also verhalte ich mich ruhig und setze mich auch in der Mittagspause abseits. Ich habe immer ein Buch dabei. Dann fühle ich mich nicht so allein. Nur die Nachmittage zu Hause ziehen sich oft hin. Mit Verena bin ich stundenlang unterwegs gewesen, aber das macht hier keinen Spaß.

Ich ziehe den Ärmel meiner Jacke hoch und betrachte die Linien. Manche davon sind bereits verblasst, einige rot und entzündet. Vorsichtig kratze ich daran. Ich höre erst auf, als Blut fließt. Der Schmerz bringt Erleichterung und vertreibt die unangenehmen Gedanken.

Weißt du, wer das war?“

Ich zucke zusammen und drehe mich um. Da steht ein Mädchen. Sie ist etwa in meinem Alter und lächelt mich an. Dann streicht sie sich die nassen langen Haare hinter die Ohren. Ich habe sie noch nie gesehen, weder hier im Ort noch in der Schule.

Ich habe sie beobachtet gestern Nacht, als sie die Scheibe beschmiert haben. Es waren die vier, die in den Bus gestiegen sind. Kennst du die?“

Vorsichtig nicke ich. Gleichzeitig drehen sich die Gedanken in meinem Kopf wie in einem Kettenkarussell. Wer ist das Mädchen und warum war sie gestern Nacht hier draußen?

Mach dir nicht so viele Gedanken, Larissa. Wir sollten uns jetzt auf den Weg machen.“

Das Mädchen fasst nach meiner Hand und zieht mich mit sich. Ich will nicht mit ihr gehen und trotzdem folge ich ihr völlig willenlos in den Wald, der gleich am Ortsrand beginnt. Normalerweise mag ich den Wald, aber auf einmal macht er mir Angst. Längst haben wir den Waldweg verlassen und ich stolpere hinter dem Mädchen durch das Unterholz. Was hat sie vor mit mir?

Plötzlich bleibt sie stehen. Ich folge ihrem Blick, der starr nach vorn gerichtet ist. Wir sind an den Bahngleisen angekommen.

Was wollen wir hier?“, frage ich sie, doch sie antwortet nicht. Immer noch ist sie wie versteinert. Ich betrachte sie genauer. Sie kommt mir vage bekannt vor, aber ich hätte nicht sagen können, wer sie ist. Ihre Haare haben diese nichtssagende Farbe, die ich auch an mir hasse, kein Blond, aber auch kein Kastanienbraun. Straßenköterblond hat Verena das mal genannt. Sie ist nicht sonderlich hübsch, eher ein Durchschnittstyp, wie ich. Trotzdem ist mir so, als hätte ich ihr Gesicht schon einmal irgendwo gesehen. Ihre Kleidung ist voller Flecken, deren rostrote Farbe mich an geronnenes Blut erinnert.

Hier ist es damals passiert“, flüstert sie und zeigt mit dem Finger auf die Bahngleise.

Irgendetwas an ihrem Tonfall lässt mich eine Gänsehaut bekommen.

Was meinst du?“, flüstere ich ebenfalls. Ich weiß zwar nicht, warum wir so leise sprechen, denn es ist niemand außer uns hier, aber es käme mir auch falsch vor, laut zu reden.

Doch sie antwortet wieder nicht. Stumme Tränen laufen ihr über die Wangen. Ich hebe meine Hand, um sie wegzuwischen, aber sie weicht zurück.

Ich will dir nichts tun. Wie heißt du eigentlich? Du hast mir noch gar nicht deinen Namen gesagt.“

Anja Tischer.“

Bei diesem Namen klingelt etwas in meinem Kopf. Wo hatte ich den schon mal gehört? Anja fasst nach meiner Hand und ich merke erst jetzt, wie kalt ihre Finger sind. Sie zieht mich etwas näher an die Gleise heran. Von weitem höre ich einen Zug kommen. Ich blicke nach rechts und jetzt kann ich ihn auch sehen. Er ist noch etliche Hundert Meter entfernt, aber ich fühle mich nicht wohl so nah an den Gleisen. Doch Anja zieht mich weiter.

Hey, was hast du vor? Bleib stehen.“

Ich reiße mich von ihr los.

Bist du verrückt? Willst du uns umbringen?“

Hier ist es passiert. Vor ungefähr zwei Jahren. Erinnerst du dich an die Nachrichten?“

Der Zug rast an uns vorbei. Ein kurzes lautes Rauschen, dann ist es wieder still. Ich versuche, zu verstehen, was mir Anja erzählt hat und da fällt es mir plötzlich ein. Ich hatte es im Dorfladen gehört. Jetzt konnte ich die Frauen vor mir sehen, als sie von dem armen Mädchen geredet hatten, dass sich vor lauter Verzweiflung vor den Zug geworfen hatte. Sie war von ihren Klassenkameraden gemobbt worden. Irgendwann hatte sie es nicht mehr ausgehalten und sich umgebracht. Hieß sie nicht Tischer, Anja Tischer? Aber das kann doch nicht sein! Dieses Mädchen hier ist so lebendig wie ich. Ich gehe ein paar Schritte zurück.

Hab keine Angst, Larissa. Es geht ganz schnell. Du wirst dich frei fühlen.“

Ich schaue sie an und bemerke, dass sie fast transparent wirkt. Das ist mir vorhin nicht aufgefallen. Sehe ich schon Gespenster? Ich taste nach meiner Stirn, aber die ist eiskalt. Langsam verschwimmen Anjas Konturen, ihr Gesicht wird immer blasser, bis ich kaum noch ihre Augen, die Nase oder den Mund erkenne. Sie nähert sich mir, streckt den Arm nach mir aus.

Ihre Worte klingen so undeutlich, als hätte sie Murmeln im Mund: „Der nächste Zug kommt bald. Gib mir deine Hand.“

Ich gehe noch ein paar Schritte rückwärts. Ein Ast liegt im Weg und ich stürze.

Verschwinde! Verschwinde und lass mich in Ruhe! Ich will nicht sterben! Ich will leben!“

Den letzten Satz schreie ich, so laut ich nur kann. Die Furcht, die mir gerade noch in den Knochen steckte, ist verflogen. Ja, ich will leben und ich werde mir helfen lassen. Die Ritzerei muss ein Ende haben. Keinesfalls möchte ich es so weit kommen lassen wie Anja.

Wo ist sie überhaupt? Ich rappele mich vom Boden auf und drehe mich eine Runde um mich selbst. Sie ist verschwunden.

Ich sitze in meinem Zimmer vor dem Computer und starre auf die Facebook-Seite von Familie Tischer. Ihre Tochter war so alt wie ich, als sie das Mobbing ihrer Mitschüler nicht mehr aushielt und sich umbrachte. Ich blicke auf das Foto eines lächelnden Mädchens mit straßenköterblonden Haaren.

Dann öffne ich die Schublade des Nachtschränkchens und greife nach der Rasierklinge. Ich lege sie auf meine Handfläche und betrachte das metallene Ding, das seit einem Jahr meinen Alltag bestimmt. Ich will leben!, geht es mir durch den Kopf. Dann lege ich die Rasierklinge wieder zurück. Heute bin ich stark, heute schaffe ich es ohne die Klinge.

Am nächsten Morgen gehe ich mit einem Grummeln im Bauch zur Bushaltestelle. Als ich auf die Scheibe des Wartehäuschens schaue, traue ich meinen Augen kaum. Die schrecklichen Worte sind weg. Frau Lehmann drückt ihrem Sohn gerade einen Schwamm in die Hand und nickt mir freundlich zu.

Text und Foto: Susanne Sommerfeld

4 Gedanken zu „Niemand mag dich – Kurzgeschichte

    • Das stimmt und auch ich habe das Gefühl, dass es auch durch die sozialen Medien nicht einfacher für Kinder wird. Den Satz habe ich übrigens tatsächlich an einem Wartehäuschen gelesen. Das hat mich so erschüttert, dass ich es in eine Geschichte packen musste.

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